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Brauchen wir die Tradition?

Brauchen wir neben der Bibel die Tradition der alten Kirche?

 

Kennen Sie die „Hilfsaktion Märtyrerkirche“, die sich für die verfolgten Christen einsetzt in den immer noch kommunistisch und in den islamisch regierten Staaten. Die Hilfsaktion Märtyrerkirche gibt eine Informationszeitschrift heraus, in der man vor einiger Zeit hochinteressante Dinge über Nordkorea lesen konnte.

In Nordkorea herrscht ja seit Jahren eine besonders schlimme Hungersnot, und viele Nordkoreaner versuchen der Hungersnot zu entkommen, indem sie heimlich über die Grenze nach China fliehen. In China treffen sie vielfach auf heimliche chinesische Christen, die ihnen helfen - die ihnen aber auch das Evangelium bezeugen. Und da soll es immer wieder passieren, daß einzelne nordkoreanische Christen sich entschließen, - wiederum heimlich - über die Grenze in ihre Hungerheimat zurückzukehren, weil sie die frohe Botschaft von Jesus Christus ihren zurückgebliebenen Angehörigen weitersagen wollen. Es haben sich auf diese Weise eine Reihe heimlicher Hausgemeinden in Nordkorea gebildet, in denen es auch die eine oder andere hineingeschmuggelte Bibel gibt.

Nun kommt das für unser Thema Hochinteressante: Einige dieser heimlichen Hausgemeinden haben bei den Christen in China angefragt, wie man denn das Abendmahl feiert. Man wolle nicht nur in der Bibel lesen, sondern auch miteinander Abendmahl feiern.

Damit stellt sich die Frage: Steht denn das nicht ganz genau in der Bibel? Nein, es steht nicht genau in der Bibel! Vergessen Sie einmal alles, was Sie bisher über das Abendmahl wissen und nehmen Sie wirklich nur die Bibel zur Hand. Lesen Sie beispielsweise den Einsetzungsbericht des Matthäusevangeliums:

Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach´s und gab´s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
(Mt 26,26-28)

Auf den ersten Blick scheint hier tatsächlich alles genau beschrieben zu sein. Jesus hat das Brot genommen, in elf Teile gebrochen - Judas war wahrscheinlich nicht mehr dabei - und jedem Apostel ein Stück gegeben. Dabei hat Jesus gesagt: „Nehmet, esset; das ist mein Leib.“ Danach hat er den Kelch kreisen lassen und gesagt: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ Das sieht doch alles ganz einfach aus; so können es die heimlichen Christen in Nordkorea doch auch machen!

Nun ist aber vielleicht einer von den nordkoreanischen Christen auch zufällig auf eine ganz andere Stelle gestoßen, daß nämlich der Kelch beim Abendmahl gesegnet werden muß, denn im 1. Korintherbrief schreibt Paulus:

Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?
(1.Kor 10,16)

Auch hier ist ja ganz offensichtlich vom Abendmahl die Rede; und es heißt, daß der Kelch mit seinem Inhalt gesegnet werden muß. Wie macht man das, einen Kelch mit seinem Inhalt segnen? Die Nordkoreaner haben das ja noch nie gesehen! Ich vermute, daß selbst die allerwenigsten deutschen Christen wissen, wie der Abendmahlskelch gesegnet wird, obwohl doch die meisten schon an vielen Abendmahlsgottesdiensten teilgenommen haben.

Wenn jetzt aber von den Nordkoreanern noch jemand Griechisch kann und auch ein griechisches Neues Testament besitzt, wird es noch schwieriger. Denn wenn die Lutherbibel den Evangeliumstext so übersetzt:

Jesus nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach ...

dann ist in Wirklichkeit das griechische Wort mehrdeutig. Es kann nämlich auch übersetzt werden:

Jesus nahm den Kelch und segnete (ihn), und gab ihnen den und sprach ...

Diese Übersetzung ist offenbar richtig, denn Paulus schreibt ja ausdrücklich, daß der Abendmahlskelch gesegnet wird; das hat sich doch Paulus bestimmt nicht selber ausgedacht, das hat doch sicher schon Jesus so gemacht und angeordnet.

Wenn es nun stimmt, daß es eigentlich heißen muß: Jesus segnete den Kelch, dann muß es doch sicher auch beim Brot so heißen:

Er nahm das Brot, segnete es und gab ihnen das und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib.

Wie muß also der Kelch gesegnet werden, und wie das Brot? Das kann kein Nordkoreaner wissen, der nur die Bibel in Händen hält! Deshalb haben sie ja auch angefragt: Wie macht man das? Sie haben genaugenommen nach der Tradition gefragt, nach einer kirchlichen Überlieferung, die den allzu knappen Abendmahlsbericht in der Bibel ergänzt. Wir sehen: Bei manchen Dingen reicht die Bibel nicht aus, da brauchen wir die neben der Bibel herlaufende Tradition, die Überlieferung der Kirche.

Die Überlieferung der Kirche sagt uns: Ein Segen wird immer so erteilt, daß der Pfarrer denjenigen Menschen, die er segnen will - sagen wir dem Brautpaar oder den Konfirmanden - die Hände auf den Kopf legt und dazu betet oder ein Bibelwort spricht und dabei ein Kreuz schlägt. Beim Abendmahl hält der Pastor die Hände flach über das Brot und über den Kelch und er sagt genau die gleichen Worte, die Jesus damals gesagt hat:

                Nehmet, esset, das ist mein Leib ...

und:

das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.

 

Diese Worte werden segnend gesprochen; und zum Zeichen, daß es sich um segnende Worte handelt, schlägt der Pastor ein Kreuz über Brot und Wein.

Das sagt uns die Tradition der Kirche. Wer nun sagt: „Ich brauche die Tradition der Kirche nicht, ich nehme nur die Bibel“, der muß entweder auf das Abendmahl ganz verzichten, oder er wird - was übrigens gar nicht ganz selten vorkommt - auf ein gesegnetes Abendmahl verzichten und ein ungesegnetes Abendmahl feiern - was dann allerdings mit der Bibel auch nicht übereinstimmt, denn Paulus schreibt ja, daß zumindest der Kelch gesegnet werden muß.

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Nun sind vielleicht manche unter uns erstaunt. Sie sagen: Ich dachte, in der evangelischen Kirche gilt nur die Heilige Schrift! In Glaubensdingen gilt nur das, was in der Bibel steht. Jede danebenherlaufende Tradition ist abzulehnen.

Das ist aber nicht der Fall. Zumindest bei Luther und in dem lutherischen Flügel der evangelischen Kirche wird auch die alte Tradition in Ehren gehalten und beachtet. Bei Luther gilt nicht: allein die Schrift, sondern: zuerst die Schrift. Wenn wir mit der Bibel allein auskommen, und das ist in den allermeisten Fällen der Fall, brauchen wir keine Tradition. Wenn die Bibel aber irgendwo eine Lücke aufweist - und das ist vor allem in den Sakramentsfragen der Fall - dann fragen wir: Was hat denn die alte Kirche gemacht? Gibt es eine möglichst alte Tradition, aus der man ersehen kann, wie es schon die Apostel gemacht haben? Und ist diese Tradition schon in der ganzen alten Kirche verbreitet, so daß man daraus den Schluß ziehen kann, daß es sich tatsächlich um eine uralte, schon auf die Apostel zurückgehende Tradition handelt? Wenn es eine solche alte, gesamtkirchliche Tradition gibt, die eine Lücke schließt, die uns die Bibel hinterlassen hat, dann halten wir uns an diese Tradition. In einigen Punkten brauchen wir einfach die ergänzende Tradition der alten Kirche.

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Das ist übrigens auch bei der Taufe der Fall. Vergessen Sie einmal alles, was Sie über die Taufe wissen. Schlagen Sie nur die Bibel auf und lesen Sie nach, was dort steht, zum Beispiel in den letzten Versen des Matthäusevangeliums:

Jesus trat zu (den Jüngern), redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
(Mt 28,18-20)

Was steht denn hier über den Vollzug der Taufe? Nichts oder fast nichts! Nicht einmal das Wort Wasser kommt hier vor. Wir müssen dafür andere Bibelstellen zur Hilfe nehmen. Immerhin gibt es solche Bibelstellen, so heißt es beispielsweise in der Geschichte von Philippus und dem Kämmerer aus dem Mohrenland:

Als sie zogen der Straße nach, kamen sie an ein Wasser. Und der Kämmerer sprach: Siehe da ist Wasser; was hindert´s, daß ich mich taufen lasse? Philippus aber sprach: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so mag es geschehen. Er aber antwortete und sprach: Ich glaube, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist. Und er hieß den Wagen halten, und stiegen hinab in das Wasser beide, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
(AG 8,36-38)

Getauft wird also mit Wasser. Aber wie? Darüber steht nichts in der ganzen Bibel. Genügt ein einmaliges kurzes Untertauchen, weil es ja nur einen Gott und eine Taufe gibt? Oder soll der Täufling vielleicht dreimal untertauchen, der heiligen Dreifaltigkeit entsprechend? Oder gilt hier das symbolische Vorbild des aussätzigen Naeman, der nach dem Bericht des Alten Testaments siebenmal im Jordan untergetaucht ist und so auf wunderbare Weise von seinem Aussatz befreit wurde? In ähnlicher Weise werden ja auch wir in der Taufe vom Aussatz der Erbsünde gereinigt? Muß ein Mensch also siebenmal untergetaucht werden?

Und wie ist es überhaupt mit der Frage des Untertauchens? Manche Sekten behaupten ja, nur eine Untertauchtaufe sei gültig. Wenn nur der Kopf eines Kindes ein wenig mit Wasser übergossen wird, reiche das nicht aus. Probieren Sie einmal, diese Frage allein an Hand der Bibel zu beantworten!

Muß zur Taufe ein bestimmtes Gebet oder ein bestimmtes Begleitwort gesprochen werden? Die Bibel gibt hierauf keine eindeutige Antwort. Bei Matthäus heißt es zwar:

Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.

Es wird aber nicht gesagt, daß dies das zur Gültigkeit der Taufe notwendige Begleitwort ist. Es gibt sogar zwei Stellen in der Bibel, die einen ganz anderen Schluß nahelegen. So sagt einmal der Apostel Petrus am Ende seiner großen Pfingstpredigt zu den Juden:

Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes.
(AG 2,38)

Ebenso heißt es von den zwölf christusgläubigen Apollosjüngern, die von Paulus belehrt und getauft wurden:

Da sie das hörten, ließen sie sich taufen auf den Namen des Herrn Jesus.
(AG 19,5)

Darf man aus diesen beiden Stellen den Schluß ziehen, daß das Begleitwort zur Taufe heißen muß: „Ich taufe dich auf den Namen des Herrn Jesus“? Sie wissen alle, daß dies nicht die richtige Taufformel ist; und eine solche Taufe würde auch von keiner christlichen Kirche anerkannt werden. Aber woher wissen wir denn, welches die richtige Taufformel ist? Aus der Tradition der Kirche!

Mit anderen Worten: Es steht nirgends in der Bibel, welches das entscheidende Begleitwort ist; und wenn man sich auf das Raten verlegt, stehen zwei verschiedene Antworten zur Auswahl. Nur aus der Tradition wissen wir, daß Matthäus uns die gültige Taufformel überliefert, und daß die Apostelgeschichte nur eine kurze theologische Zusammenfassung dieses Taufwortes bietet.

Wer hat übrigens die Vollmacht zur Taufe? Muß es ein Pfarrer sein? Und muß der Pfarrer gläubig sein, oder ist auch die Taufe eines ungläubigen Pfarrers gültig? Kann jeder Christ taufen? Kann auch ein ungläubiger Christ taufen? Kann ein Sektierer eine gültige Taufe vollziehen oder ein Atheist oder ein Mohammedaner? In der Bibel steht über alle diese Fragen nichts. Diese Fragen werden allein durch die kirchliche Tradition beantwortet.

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In manchen Punkten brauchen wir einfach die ergänzende Tradition der alten Kirche. Das ist nicht nur meine eigene private Meinung, sondern das ist die feste und offizielle Überzeugung der ganzen lutherischen Kirche. In der sogenannten „Augsburgischen Konfession“, der neben Luthers Katechismen wichtigsten und grundlegenden lutherischen Bekenntnisschrift, heißt es in der Zusammenfassung am Schluß,

daß bei uns nichts, weder mit Lehre noch mit Ceremonien angenommen ist, das entweder der heiligen Schrift oder gemeiner christlichen Kirchen zuentgegen wäre.

In heutiger Ausdrucksweise heißt das, daß die lutherische Kirche keine neue Lehre und keine neuen Zeremonien eingeführt hat, die im Widerspruch zur Heiligen Schrift oder zur Tradition der allgemeinen Kirche stehen. Ganz in diesem Sinn beruft sich denn die „Augsburgische Konfession“ auch immer wieder auf die Tradition der alten Kirche und auf die alten Kirchenlehrer. Mehrfach wird in dieser lutherischen Bekenntnisschrift auf den alten Kirchenvater Augustin verwiesen, aber auch auf die alten Päpste Gelasius (CA XXII), Pius II. (CA XXIII), Gregor den Großen (CA XXVI) und auf andere alte Kirchenlehrer. Es ist einfach nicht wahr, daß sich die evangelische Kirche allein auf die Schrift stützt und alle alte Tradition beiseite schiebt - zumindest trifft das nicht auf die lutherische Kirche zu.

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An dieser Stelle muß nun auch ein Wort zur Bibel selber gesagt werden. Woher wissen wir eigentlich, welche Bücher zur Bibel gehören und welche nicht? Warum gehört beispielsweise das Matthäusevangelium zum Neuen Testament, das sogenannte „Thomasevangelium“ aber nicht? Und warum ist auch das sogenannte „Petrusevangelium“ oder das „Judasevangelium“ nicht in die Bibel aufgenommen worden? Warum nicht das „Protevangelium des Jakobus“ oder sonst eine der vielen apokryphen Schriften zum Neuen Testament? Die Antwort lautet: Die alte Kirche hat uns überliefert, welche Evangelien echt sind und welche nicht. Die Tradition der alten Kirche sagt uns: Die vier biblischen Evangelien sind echt, ihre Verfasser waren die beiden Apostel Matthäus und Johannes, Markus war der Dolmetscher des Petrus in Rom und Lukas der Begleiter des Apostels Paulus. Diese vier wußten genau Bescheid. Das „Thomasevangelium“ dagegen ist gefälscht. Es stammt weder vom Apostel Thomas, noch hat Jesus das, was darin steht, wirklich gesagt.

Zumindest in diesem besonders wichtigen Punkt kommen wir ohne die Tradition der Kirche nicht aus. Die alte Kirche hat uns gesagt, welche Schriften zum Neuen Testament gehören und welche nicht. Diese grundlegende kirchliche Tradition kann nun wirklich niemand bestreiten.

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Ich komme noch einmal auf das Kreuzschlagen zurück. Ich hatte ja anfangs gesagt, zu jedem kirchlichen Segen - also auch zur Segnung von Brot und Wein beim Abendmahl - gehört es, daß der Pfarrer ein Kreuz schlägt. Auch dies ist eine uralte kirchliche Tradition; und für Luther war es noch ganz selbstverständlich, daß beim Abendmahl ein Kreuz geschlagen wurde. Er empfiehlt sogar, daß jeder Christ sich morgens und abends selbst bekreuzigen möge. Das steht in seinem kleinen Katechismus! (Diese Anweisungen zur Selbstbekreuzigung werden allerdings in den modernen Katechismusausgaben meistens fortgelassen.)

Hier war Calvin, der Reformator der Schweiz, ganz anderer Meinung: Er hat mit scharfen Worten erklärt: Vom Kreuzschlagen steht nichts in der Bibel, also ist es unchristlich! Es ist sogar ein böser Aberglaube. Ein Christ darf sich nicht bekreuzigen; und ein Pfarrer darf kein Kreuz über Brot und Wein schlagen.

Wer hat recht, Luther oder Calvin? Nun auch hier hilft uns die Tradition der Kirche. Die alten Kirchenlehrer sagen uns: Das Kreuzeszeichen kommt doch schon in der Bibel vor! Jesus selber hat ja im Zusammenhang mit der allerletzten Endzeit gesagt:

Sonne und Mond (werden) den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden kommen sehen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.
(Mt 24,29+30)

Was ist denn das „Zeichen des Menschensohnes“, was ist das Zeichen Jesu Christi? Das ist doch klar! Es kommt nur ein einziges Zeichen in Frage: das Kreuz!

Hier hilft uns die Tradition ja nur, die Bibel besser zu verstehen. Wie oft habe ich über das Wort „Zeichen des Menschensohnes“ hinweggelesen, ohne mir etwas dabei zu denken. Seitdem ich aber die alten Kirchenväter gelesen habe, achte ich auf diese Bibelstelle. Sie kündigt uns an: Bevor Jesus am Jüngsten Tag mit den Wolken am Himmel erscheinen wird, wird es erst ein großes Kreuzeszeichen am Himmel geben. Für die wenigen letzten gläubigen Christen, die in irgendwelchen Verstecken in der großen Verfolgung des Antichristen ausgeharrt haben, wird dieses Kreuz am Himmel eine ungeheure Ermutigung sein: Bald kommt Jesus Christus wieder. Die Ungläubigen werden dieses vermutlich unerklärliche Zeichen am Himmel als reinen Zufall erklären. Aber es wird dieses große, unübersehbare Zeichen am Himmel geben!

Jesus hat also selber ein besonderes Zeichen eingesetzt, ein besonderes Merkmal der Kirche: das Kreuzeszeichen! Und wenn jemand aus Liebe zu Jesus Christus dieses heilige Zeichen benutzt, um sich selbst zu bekreuzigen, sollte man das nicht als „Aberglauben“ verlästern. Und wenn die alte Kirche sagt: Dieses Zeichen wird auch zum Segnen benutzt, man schlägt über dem Brautpaar oder über den Konfirmanden oder über Brot und Wein ein Kreuz, dann sollte nicht irgend jemand wie Calvin nach über eineinhalbtausend Jahren kommen und sagen: Das ist ein Aberglaube. Wo ist denn der Beweis für eine solche herabsetzende Behauptung?

Wenn nun ein Pfarrer sagt: Das leuchtet mir nicht ein. In der Bibel steht nur „Zeichen des Menschensohnes“ - das Wort „Kreuz“ steht da nicht, und daß man das Kreuzschlagen zum Segnen gebrauchen soll, steht auch nirgends in der Bibel, dann kann man ihm nur sagen: Dann mußt du eben auf den Segen verzichten. Wenn du dich in den Segens- und Sakramentsfragen nur an die Bibel halten willst und jede Tradition ablehnst, kannst du keinen Segen erteilen. Deine Konfirmanden bleiben ungesegnet, deine Brautpaare bleiben ungesegnet und dein Abendmahl bleibt ungesegnet.

Vielleicht sagt dann der Betreffende: Ein Segen ist sowieso nichts anderes als eine Fürbitte; und Fürbitte halten für Konfirmanden, Brautpaare und andere Gemeindeglieder kann man auch ohne Handauflegung und Kreuzschlagen. Darauf ist zu antworten: In der Bibel, im Hebräerbrief, steht geschrieben, daß immer nur ein Höherstehender die Niedrigstehenden segnen kann. Der Pfarrer segnet den Konfirmanden, umgekehrt geht es nicht. Die Stelle im Hebräerbrief heißt:

Nun ist´s ohn alles Widersprechen so, daß das Geringere von dem Höheren gesegnet wird.
(Hebr 7,7)

Es ist zu beachten, mit welchem Nachdruck hier gesagt wird: Es gibt keinen Widerspruch! Ohne alles Widersprechen ist es so, daß immer nur das Geringere von dem Höheren gesegnet wird. - Wenn der Segen nichts anderes wäre als eine Fürbitte, dürfte die Bibel das nicht sagen, denn beten kann der Konfirmand für den Pfarrer allemal. Jedes Gemeindeglied kann für den Pfarrer beten.

Ein Segen ist also etwas anderes als eine bloße Fürbitte. Ein Pfarrer, der einen vollmächtigen Segen erteilt, vermittelt damit seinen Konfirmanden oder einem Brautpaar die Kraft des Heiligen Geistes. Und wird der Segen vollmächtig über Brot und Wein gesprochen, so kommt Jesus Christus selber vom Himmel hernieder, um in Brot und Wein leibhaft anwesend zu sein und um verborgen in diesen äußerlichen Elementen zu uns zu kommen und in unserer Seele Wohnung zu machen. Wie aber der Segen zu vollziehen ist, der dieses große Wunder bewirkt, darüber hat uns die Tradition der Kirche belehrt.

Ein vernünftiger Christ sollte verstehen: Die alte Kirche hat uns treu die Heilige Schrift überliefert, insbesondere das Neue Testament. Viele Tausende christliche Brüder und Schwestern dieser alten Kirche sind für das Evangelium den Märtyrertod gestorben. Dieser alten Kirche sollte man auch glauben, wenn sie uns in Ergänzung zur Bibel einige besondere Hinweise und Riten vermittelt hat, ohne die wir ganz hilflos wären - jedenfalls, wenn es um die Sakramente geht.

Karsten Bürgener

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