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Probleme des biblischen Kanons

Anmerkungen zur Kanonfrage

Ein Vortrag vor Theologiestudenten

Zunächst eine allgemeine Vorüberlegung zur gesamten Kanonfrage. Ich bin extra dieser Tagung wegen nach Tübingen gereist, um mich in der dortigen Seminarbibliothek noch einmal in die entsprechende Literatur zu vertiefen. Dabei habe ich festgestellt: Das Thema und die dazugehörige Literatur sind uferlos. Es gibt auch so viele Einzelfakten dabei zu bedenken, daß man sie als Nichtspezialist gar nicht im Auge behalten kann. Erwarten Sie also nicht zu viel. Immerhin kann ich von mir behaupten, daß ich selber jetzt über die Kanonfrage viel besser Bescheid weiß, als das der Fall war, als ich vor vielen Jahren die Universität verließ. Und vielleicht helfen ja doch unsere grundsätzlichen Überlegungen, dem einen oder anderen, den rechten Standpunkt in der Kanonfrage zu finden.

Festgestellt habe ich bei meinem Aufenthalt in Tübingen auch, daß sich in der Kanonfrage inzwischen einiges bewegt hat. An die angebliche “Synode von Jamnia“, die früher sozusagen ein Dogma der historisch-kritischen Theologie war, glauben heute nur noch wenige Theologen. Ja ich habe sogar ein Buch in die Hand bekommen, eine Habibiltationsschrift eines Heidelberger Professors, der heute in den USA lehrt, in dem die Behauptung aufgestellt wird, es habe schon um 180 eine Endredaktion des NT gegeben - wer auch immer die zusammengestellt habe. Diese Endredaktion sei erkennbar etwa an den gleichartigen Überschriften zu den vier Evangelien oder an der gleichen Art, wie überall Worte wie “Jesus“ oder “Christus“ abgekürzt würden. Alle späteren Diskussionen etwa um den Hebräerbrief setzten diese einheitliche Endredaktion stillschweigend voraus.

Das Buch ist verfaßt von David Trobisch und heißt: “Die Endredaktion des Neuen Testaments“, erschienen 1996 in Göttingen. Ich zitiere einen Satz daraus:

Im ausgehenden zweiten und beginnenden dritten Jahrhundert wird die Ausgabe bereits weltweit benutzt, von Irenäus in Lyon, von Tertullian in Karthago und in Kleinasien, von Clemens in Alexandrien und von Origenes in Palästina“
(Seite 159)

 

I. Der Kanon des Alten Testaments

 

Ich komme jetzt zu meinem eigentlichen Vortrag über den Kanon des Alten Testaments. Ich beginne allerdings auch hier zunächst mit einer allgemeinen Vorüberlegung. Im 2. Thessalonicherbrief schreibt der Apostel Paulus in Hinblick auf den Antichristen:

... der Frevler wird auftreten in der Macht des Satans mit allerlei lügenhaften Kräften und Zeichen und Wundern und mit allerlei Verführung zur Ungerechtigkeit bei denen, die verloren werden, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben zu ihrer Rettung. Darum sendet ihnen Gott auch kräftige Irrtümer, daß sie glauben der Lüge ...
(2.Thess 2,9-11)

 

Ein erstaunliches Wort! Der Apostel schreibt nicht: Gott läßt zu, daß sich unter den Menschen kräftige Irrtümer ausbreiten. Nein, er schreibt: Gott selbst ist die Ursache kräftiger Irrtümer. Er selber sendet sie. Wie kann Gott Irrtümer senden, ohne selber zu lügen? Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen: Gott kann durchaus wahrheitsgemäß handeln und zugleich falsche Spuren legen.

Eine falsche Spur, die er offensichtlich mit Absicht gelegt hat, ist die erstaunliche Ähnlichkeit des Affen mit dem Menschen. Solange der Christ an den mosaischen Schöpfungsbericht glaubt, kann ihm diese Ähnlichkeit nicht schaden, ja sie kann ihm sogar zu tieferen Einsichten verhelfen, wie beispielsweise zu jener gleichnishaften Einsicht: “Der Teufel ist der Affe Gottes.“ Wenn der Christ den biblischen Aussagen jedoch nicht mehr glaubt, wird ihm die Ähnlichkeit des Affen mit dem Menschen leicht zur Quelle eines Irrtums: Der Mensch sieht dem Affen ähnlich - also stammt er wohl vom Affen ab - er hat sich demnach aus einem Tier entwickelt - er ist das Produkt des Zufalls - ein Schöpfergott ist nicht nötig - es hat sich alles von alleine entwickelt. Eine Kette von Irrtümern - von Gott selber provoziert.

Gott kann also ehrliche Fakten schaffen, die zu genau den Zeiten, die er vorausgesehen hat, bei denjenigen, die die biblische Offenbarung geringschätzen, folgenschwere Irrtümer provozieren. Er kann also Irrtümer senden, ohne selber etwas Falsches zu tun oder zu sagen.

Ein anderes Beispiel: Ich selber habe mich nach jahrelangem Ringen dazu durchgerungen, daß ich an die Verbalinspiration der Heiligen Schrift glaube. Ich glaube, daß Gottes Heiliger Geist jedem einzelnen der biblischen Schriftsteller so die Feder geführt hat, daß jeder Satz und jedes aufgeschriebene Wort fehlerfrei und irrtumslos notiert worden ist. Ich glaube, daß jeder von ihnen bei der Abfassung seiner Bücher ein Prophet war. Dabei bleibt aber - wenn man so will - ein Problem übrig: Wir haben keine einzige biblische Schrift im Original! Wir haben alle biblischen Schriften nur als Abschrift von der Abschrift - und bei dieser Abschreibkette haben sich eine ganze Reihe von Abschreibfehlern eingeschlichen, wie sich das durch den Vergleich der einzelnen Abschriften miteinander deutlich ergibt.

Warum hat Gott das zugelassen, wenn er es doch ursprünglich auf absolute Fehlerlosigkeit abgesehen hatte. Warum hat sich Gott verhalten wie ein Schriftsteller, der ein mit großen Mühen fehlerfrei verfertigtes Manuskript in die Druckerei gibt, dann aber nicht aufpaßt, was der Setzer aus seinem Manuskript macht, und der es nicht für nötig hält, die Druckfahnen des Setzers sorgfältig Korrektur zu lesen?

Meine Antwort nach langem Nachdenken: Hier hat Gott absichtlich einen Stolperstein für die kritischen Theologen der Endzeit entstehen lassen. Er hat absichtlich eine gewisse und geringe Unsorgfalt der alten Abschreiber zugelassen, damit für die modernen Theologen eine falsche Fährte entsteht.

Wenn ich sage, Gott habe mit Absicht eine gewisse und geringe Unsorgfalt zugelassen, so meine ich: Gott hat doch aufgepaßt! Er hat dafür gesorgt, daß es nirgendwo einen gravierenden Abschreibfehler gegeben hat. Die sogenannte Textkritik mag den tüftelnden Theologen beschäftigen, im Großen und Ganzen ergibt sie nichts. Sie reizt allerdings die ungesunde Phantasie der Endzeittheologen. Ist nicht die Notwendigkeit der Textkritik ein schlagender Beweis dafür, daß man kritisch an die Bibel herangehen muß? Kann man an dieser Stelle nicht alle Studenten mühelos auf das Glatteis der “historisch-kritischen“ Theologie ziehen? Kann man nicht sogar stark vergröbernd behaupten: Einen Urtext gibt es nicht, es ist alles ungewiß?

Ich denke, auch hier hat Gott vor langer Zeit eine falsche Spur gelegt. Solange die Theologen wirklich gläubig waren, ist niemand von ihnen an dieser Stelle gestolpert. Erst zur Zeit der langsam heraufziehenden Endzeit ist hier aus einem Miniproblem eine große, einladende Pforte zur “historisch-kritischen“ Theologie geworden.

Ein drittes Beispiel ist die Kanonfrage, die uns auf dieser Tagung beschäftigt. Auch hier hat Gott, wie mir scheint, absichtlich einen Stolperstein zugelassen, den man entweder gelassen umgehen oder über den man auch ins grundsätzliche Stolpern geraten kann.

Welches Problem ergibt sich eigentlich daraus, daß die evangelische und die orthodoxe Kirche einen kleineren Kanon anerkennt als die katholische Kirche? Ich sehe nirgendwo ein Problem.

Der einzige Problempunkt, auf den ich bisher gestoßen bin, ist die Geschichte aus dem 2. Makkabäerbuch, wo für die gefallenen Juden, die allesamt ein Amulett unter ihrem Hemd getragen hatten, ein Sühneopfer im Tempel dargebracht wurden, was im 2. Makkabäerbuch wohlwollend kommentiert wird. Es heißt dort von Judas Makkabäus:

Danach brachte er durch eine Sammlung an die zweitausend Drachmen in Silber zusammen; die schickte er nach Jerusalem zum Sündopfer.Und er tat gut und löblich daran, weil er an die Auferstehung dachte.
(2.Makk 12,43)

Hier wird gelegentlich von evangelischer Seite Anstoß genommen, daß für in Sünden Verstorbene noch ein Opfer dargebracht wird; aber bei dieser Kritik geht es eigentlich um die Opferfrage, nicht um ein Kanonproblem. Auch die lutherische Agende erlaubt ja für sündige Verstorbene ein Fürbittgebet im Abendmahlsgottesdienst, und nichts anderes ist doch damals in Jerusalem geschehen: ein Fürbittgebet für Verstorbene im Rahmen eines Gott wohlgefälligen Opfers; wobei das Opfer ja kein magischer Akt ist, sondern nur die Intensität und Ernsthaftigkeit der Gebete unterstreichen soll.

Ich selber sehe überhaupt kein Problem, ob man die alttestamentlichen Apokryphen als kanonisch akzeptiert oder nicht. Lesen und kennen sollte man sie allemal, und man kann aus ihnen bestimmt mehr lernen als aus den gesammelten Werken von Bultmann oder Bonhoeffer.

Auch um auch zu diesem Streitpunkt etwas zu sagen: Was ist gewonnen oder verloren, wenn man das Buch Esther zum alttestamentlichen Kanon dazurechnet oder nicht? Gott hat es offenbar zugelassen, daß es bei diesem Buch zu Differenzen gekommen ist, ob das Buch zum Kanon gehört oder nicht. Für den Glauben gibt es hier kein Problem. Nur für diejenigen, die aus historisch-kritischer Grundeinstellung immer auf der Suche nach Problemen sind, ergibt sich hier ein großes “Grundsatzproblem“: Die Grenzen des alttestamentlichen Kanons sind nicht genau bestimmbar, also ist der ganze Kanon offenbar fragwürdig.

So weit meine allgemeine Vorbemerkung. Ich plädiere für eine gelassene Sicht der Dinge. Gerade in der Kanonfrage macht die historisch-kritische Theologie gerne aus einigen kleinen Mücken ganz große Elefanten.

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Ich komme jetzt zu meinem eigentlichen Thema: Um das Jahr 95 nach Christus schreibt der jüdische Priester und Historiker Josephus über sein jüdisches Volk - ich zitiere die Stelle mit einem langen Vorlauf, um die Intention ganz deutlich zu machen:

... wer des Priestertums teilhaftig ist, darf nur mit einer Landsmännin Kinder zeugen und bei ihr weder auf Geld noch auf sonstige Vorzüge sehen, sondern er muß zunächst ihre Herkunft prüfen, indem er die Erbfolge aus den alten Geschlechtern in Betracht zieht und zahlreiche Zeugen beibringt. Und so halten wir es nicht nur in Judäa selbst; sondern überall, wo sich zahlreichere Gemeinden unseres Volkes befinden, da werden auch die Vorschriften über die Eheschließung der Priester genau beobachtet - in Ägypten, in Babylon und wo sonst in der Welt jüdische Priester zerstreut sind. Denn die letzteren schicken dann die Namen ihrer Eltern und der Voreltern väterlicherseits nach Jerusalem unter gleichzeitiger Angabe von Zeugen.

Bricht ein Krieg aus, wie dies schon oft der Fall war, z. B. als Antiochus Epiphanes, Pompejus Magnus und Quintilius Varus ins Land einfielen, besonders aber in unseren Tagen, so stellen die übriggebliebenen Priester aus den alten Urkunden wieder neue zusammen und prüfen die noch lebenden Weiber. Denn die in Kriegsgefangenschaft Geratenen nehmen sie nicht in die Listen auf, weil sie bei ihnen den in diesem Falle so häufigen geschlechtlichen Verkehr mit Fremden vermuten.

Der beste Beweis für die Sorgfalt, mit der hierbei zu Werk gegangen wird, ist der, daß bei uns alle Hohenpriester seit zweitausend Jahren mit Namen und unter Angabe ihres Stammbaums von väterlicher Seite in den Urkunden aufgeführt sind; und wer irgendeine der genannten Bedingungen nicht erfüllt, darf weder den Altardienst versehen noch an den übrigen heiligen Handlungen teilnehmen. Erklärlich ist ja auch die Genauigkeit der Register, oder vielmehr sie muß unbedingt vorhanden sein, da nicht jeder nach Belieben die Eintragungen machen durfte, wobei es ohne Widersprüche wohl nicht hergegangen wäre, sondern jenes Recht nur den Propheten zustand, welche die ältesten Ereignisse der Vorzeit durch göttliche Eingebung erfahren und die Begebnisse der eigenen Tage genau so, wie sie sich zutrugen, geschildert haben.

Denn bei uns gibt es keine Unzahl voneinander abweichender und sich gegenseitig widersprechender Bücher, sondern nur zweiundzwanzig, welche die gesamte Vergangenheit schildern und mit Recht als göttlich angesehen werden.

Fünf derselben sind von Mose; sie enthalten die Gesetze und die Geschichte von der Entstehung des Menschengeschlechtes bis zum Tode des Verfassers. Dieser Zeitraum erstreckt sich über beiläufig drei Jahrtausende. Vom Ableben des Mose aber bis zur Regierung des Artaxerxes, der nach Xerxes über die Perser herrschte, haben die auf Mose folgenden Propheten die Begebenheiten ihrer Zeit in dreizehn Büchern aufgezeichnet; die übrigen vier enthalten Lobgesänge auf Gott und Vorschriften für das Leben der Menschen.

Auch von Artaxerxes an bis auf unsere Tage ist alles eingehend beschrieben; diese Bücher stehen aber nicht in gleichem Ansehen wie die früheren, weil es da an der genauen Aufeinanderfolge der Propheten mangelte.
(Gegen Apion I,7+8)

So weit das ausführliche Zitat, das zeigt, daß Josephus hier altehrwürdige Regeln und Institutionen des jüdischen Volkes beschreiben will, nicht irgendwelche neuen Entscheidungen oder Entwicklungen der letzten Jahre. Und zu den seit langem gültigen Grundlagen des jüdischen Volkes zählt Josephus hier auch den klar abgegrenzten Kanon.

Wir müssen beachten, daß Josephus, wenn er von 22 Büchern redet, offenbar Buchrollen gemeint hat, nicht die einzelnen biblischen Bücher. So teilt er selbstverständlich den Pentateuch in fünf Buchrollen auf, und er faßt offenbar die zwölf kleinen Propheten in einer Buchrolle zusammen; die Klagelieder des Jeremia finden sich vermutlich am Ende der großen Jeremia-Buchrolle. Ob und wo dagegen das Buch Esther mituntergebracht ist, kann man seinen Angaben nicht entnehmen.

Wir haben also bei Josephus keine genaue Kanonliste, wohl aber die Behauptung, daß es seit langem einen festen Kanon in Israel gab. Diese Behauptung des Josephus wiegt deshalb schwer, weil wir es mit einem gut gebildeten und vornehmen jüdischen Priester zu tun haben.

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Die Erklärung des Josephus, daß es schon seit längerem einen festumrissenen Kanon des Alten Testaments gibt, wird gestützt durch den 2. Timotheusbrief. Dort schreibt Paulus an seinen Schüler Timotheus, daß alle jene Schriften, die ihm schon von Kindheit an als heilige Schriften vertraut waren, auch in Zukunft für die christliche Gemeinde bedeutungsvoll sind:

... bleibe in dem, was du gelernt hast und dir vertraut ist, da du ja weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die heilige Schrift weißt, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Aufdeckung der Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit ...
(2.Tim 3,14-16)

Hier wird ja nicht nur mit aller wünschenswerten Deutlichkeit erklärt, daß es überhaupt inspirierte Schriften gibt, sondern es wird auch vorausgesetzt, daß Timotheus wußte, um welche Bücher es genau ging. Es muß also einen festumrissenen alttestamentlichen Kanon gegeben haben. Und das heißt, daß der Apostel - ganz wie Josephus - von einem schon damals vorliegenden klar begrenzten Kanon des Alten Testamentes ausgeht.

Nun widerspricht die historisch-kritische Theologie hier vehement - mit den verschiedensten Einwänden. Die Pastoralbriefe stammen ja angeblich nicht von Paulus, sondern seien erst viel später entstanden. Zur Zeit des Apostels Paulus habe es noch keinen alttestamentlichen Kanon gegeben, denn der sei erst um 90 von der “Synode in Jamnia“ oder vielleicht auch noch später abgeschlossen worden (vgl. beispielsweise noch RGG3 I,1124). So sei erst bei der “Synode in Jamnia“ beschlossen worden, daß die bis dahin umstrittenen Bücher “Hoheslied“ und der “Prediger Salomo“ zu den kanonischen Büchern gehörten. Oder wenn es auch keine “Synode von Jamnia“ gegeben habe, so bewiesen doch die damaligen Auseinandersetzungen um das Hohelied und den Prediger Salomo, daß es zur damaligen Zeit noch keinen abgeschlossenen Kanon gegeben habe.

Das Argument von der “Synode in Jamnia“ hat mich leider lange Zeit stark beeindruckt, ohne daß ich mir die Mühe gemacht hätte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Erst aus dem Aufsatz von Gerhard Maier “Der Abschluß des jüdischen Kanons und das Lehrhaus von Jabne“ in dem Sammelband “Der Kanon der Bibel“ (Gießen 1990), hat mir die Augen geöffnet, daß es überhaupt keine “Synode von Jamnia“ gegeben hat. Die Quellen reden vielmehr von einer Entscheidung zu diesen beiden Büchern in der “Akademie“ oder im “Lehrhaus“ zu Jamnia - wer auch immer dort etwas zu entscheiden hatte. Vor allem: Von einer allgemeinen Kanonentscheidung ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede. Es ging wahrscheinlich nur darum, in Hinblick auf zwei immer wieder neu umstrittene Bücher eine längst getroffene Entscheidung noch einmal zu bekräftigen - wie das ja auch bei vielen wirklichen Konzilsbeschlüssen der Fall ist. Das meiste, was beispielsweise im zweiten Vatikanum beschlossen wurde, war ja keineswegs neu für die katholische Theologie, es wurde nur noch einmal bekräftigt oder vielleicht noch einmal neu akzentuiert.

Es sollte sich also niemand die klaren Aussagen des Josephus und ihre Bestätigung durch den 2. Timotheusbrief durch einen Hinweis auf die angebliche “Synode von Jamnia“ in Frage stellen lassen. Vor allem: Was in der Bibelauslegung gilt, sollte auch sonst in der historischen Forschung gelten: Niemals darf eine klare Aussage der heiligen Schrift in Frage gestellt werden durch andere, unklare Bibelstellen. Es gilt vielmehr: Unklare Bibelstellen sind von den klaren her zu interpretieren. Das muß auch in der Kanonfrage gelten.

Die klaren Aussagen des Josephus dürfen nicht in Frage gestellt werden durch die unklare Überlieferung, daß es in Jamnia Auseinandersetzungen um zwei alttestamentliche Bücher gegeben habe. Es weiß ja niemand, ob damit eine bisher noch nicht zum Abschluß gekommene Frage endgültig geklärt worden ist, oder ob eine längst entschiedene Frage doch noch einmal aufgeflammt ist. Dagegen sind die Aussagen des Josephus klar und eindeutig: Der Kanon des AT steht seit langem endgültig fest.

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Bei den Angaben des Josephus zu den jüdischen heiligen Schriften ist übrigens auch interessant, daß es neben den 22 kanonischen Schriften noch weitere Schriften aus der späteren Zeit gibt, die offenbar auch in hohen Ehren stehen, aber nicht den 22 Büchern gleichgestellt sind. Der Unterschied zwischen den 22 und den anderen Büchern beruht irgendwie - ohne daß Josephus das genau ausführt - auf ihrer vorhandenen bzw. nicht vorhandenen prophetischen Legitimation. Die 22 Bücher sind offenbar alle von prophetisch inspirierten Männern verfaßt und legitimiert, während es bei den anderen “an der genauen Aufeinanderfolge der Propheten mangelte“ - was auch immer damit gemeint sein sollte.

In jedem Fall ist anzunehmen, daß Josephus hier von den sogenannten “Apokryphen“ des Alten Testaments spricht, denen er durchaus einen besonderen Wert zumißt, wenn er sie auch nicht zu den 22 Büchern zählt. Wir stoßen hier auf das Problem der “sekundären heiligen Schriften“, wie ich das bezeichnen möchte. Ich komme an anderer Stelle noch darauf zurück.

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Nach Josephus gibt es also einen festen Kanon, der in 22 Schriftrollen zusammengefaßt ist, wobei man offensichtlich Freude daran hatte, daß die Zahl 22 mit den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets übereinstimmte. (Nur am Rande möchte ich erwähnen, daß das babylonische Judentum den Kanon in 24 Rollen zusammenfaßte, womit aber inhaltlich offenbar kein Unterschied verbunden war.)

Eine genaue Aufzählung der alttestamentlich kanonischen Schriften finden wir dann später in zahlreichen jüdischen und christlichen Quellen. Ich zitiere hier die RGG:

Die älteste jüdische Aufzählung der kanonischen Schriften steht in einer aus dem 2.Jh. nChr stammenden Überlieferung (Talm. b. Baba bathra 14b). Hier sind genannt: Tora; Jos, Ri, Sam, Kön, Jer, Ez, Jes, 12 Propheten; Ruth, Pss, Hi, Spr, Pred, Hhld, Klgl, Dan, Est, Esr, Chr. Den gleichen Bestand des jüdischen Kanons zählen ein altes transkribiertes Verzeichnis (JThS I,1950, 135ff; ThLZ 77, 1952, 249ff), Origenes (Euseb, h.e. VII,25,2), Epiphanius (de mens. 23) und Hieronymus (Prol. galeatus) auf, freilich mit abweichender Reihenfolge und Zählung.
(RGG3 I,1123f)

So weit die RGG in ihrer dritten Auflage. Die “abweichende Reihenfolge und Zählung“ sollte niemanden verunsichern. Auch die Lutherbibel erlaubt sich eine abweichende Reihenfolge der alttestamentlichen Bücher, ohne daß damit ihre Kanonizität selber irgendwie in Frage gestellt wäre. Auch sollte man bedenken, daß die alten Juden und die alten Kirchenschriftsteller keine solchen Ordnungsfanatiker waren wie wir heutigen Abendländer, und ganz besonders wie die Deutschen.

Übrigens bietet der Talmud in Baba bathra nicht nur eine Aufzählung der alttestamentlichen Bücher, sondern er überliefert auch zahlreiche detaillierte Angaben, wer welches Buch geschrieben oder redigiert hat. So wird beispielsweise berichtet, daß Samuel das Richterbuch redigiert haben soll. Die beiden Samuelbücher sollen teils von Samuel, teils aber auch von den Propheten Gad und Nathan verfaßt worden sein. Ich will aber an dieser Stelle auf alle diese Nachrichten nicht eingehen.

Wenn in dem zitierten RGG-Artikel nur Origenes, Epiphanius und Hieronymus als altkirchliche Zeugen des jüdischen Kanons genannt werden, so könnte man auch noch Melito von Sardes und Athanasius erwähnen, die nur in dem einzigen Punkt abweichen, daß sie das Buch Esther nicht aufführen. Aber auch Cyrill von Jerusalem sollte erwähnt werden, der nur in dem Punkt abweicht, daß er auch noch das apokryphe Baruchbuch und den apokryphen Jeremiasbrief aufführt. Seine Erklärungen zum Kanon sind besonders eindrücklich, weil er sich damit an die Taufbewerber - also an einfache Gemeindeglieder - wendet:

Die zweiundzwanzig Bücher der Septuaginta sollst du lesen; mit den Apokryphen jedoch sollst du nichts zu tun haben. Jene allein, zu deren Lektüre wir auch in der Kirche vertrauensvoll greifen, sollst du eifrig studieren. Diejenigen, welche uns dieselben überliefert haben, nämlich die Apostel und die alten Bischöfe, die Vorsteher der Kirche, waren viel verständiger und frömmer als du. Bist du ein Sohn der Kirche, dann übertritt nicht ihre Gesetze! Studiere die Bücher des Alten Testamentes, deren es, wie gesagt, zweiundzwanzig sind! Bist du wißbegierig, dann gib dir Mühe, ihre Namen, die ich nennen werde, dem Gedächtnis einzuprägen!

Die Bücher des Gesetzes sind zunächst die fünf Bücher Mose: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium; sodann Josua, der Sohn des Nun, und an siebter Stelle das Buch der Richter und Ruth. Von den historischen Büchern bildet das erste und zweite Buch der Könige (=1.+2.Sam.) bei den Hebräern ein einziges, ebenso das dritte und vierte Buch der Könige (= 1.+2.Kg). Desgleichen ist bei ihnen das erste und zweite Buch Paralipomenon (=1.+2.Chron) ein einziges Buch. Auch das erste und zweite Buch Esra (= Esr+Neh) wird als ein Buch gerechnet. Esther ist das zwölfte Buch. Das wären die historischen Bücher. Poetische Bücher gibt es fünf: Hiob, das Buch der Psalmen, die Sprichwörter (“Sprüche Salomos“), der Prediger und als siebzehntes Buch das Hohelied. Dazu kommen fünf prophetische Bücher: das eineBuch der zwölf Propheten, ein Buch Jesaja, ein Buch Jeremia nebst Baruch, den Klageliedern und einem Briefe, sodann Ezechiel und das Buch Daniel, das zweiundzwanzigste Buch des Alten Testamentes.
(Kat IV,35)

Soweit Cyrill zum Kanon des Alten Testamentes. Ich fahre mit seinen Ausführungen zum Neuen Testament fort, weil sich dort noch eine interessante Schlußbemerkung findet:

Zum Neuen Testament gehören nur vier Evangelien; die übrigen Evangelien sind apokryph und verderblich. Die Manichäer haben ein “Evangelium nach Thomas“ geschrieben; dasselbe hat sich mit dem wohlklingenden Namen Evangelium geschmückt, verdirbt aber die Seelen der Arglosen. Auch die Geschichte der zwölf Apostel (= Apostelgeschichte) mußt du annehmen, dazu die sieben katholischen Briefe, nämlich des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas; endlich als Siegel der ganzen Schrift und als letztes Denkmal der Jünger die vierzehn (!) Briefe des Paulus.

Alle übrigen Schriften sollen in zweiter Linie kommen. Alle jene Schriften aber, welche in der Kirche überhaupt nicht gelesen werden, darfst du, wie du gehört hast, auch für dich nicht lesen. Soviel über die Schrift.
(Kat IV,35)

Die Schlußbemerkung, die sich wohl auf den ganzen biblischen Kanon bezieht, läßt darauf schließen, daß Cyrill neben den im strengen Sinn kanonischen Büchern auch andere kennt, die ebenfalls im Gottesdienst verlesen werden können und die dementsprechend auch zur privaten Lektüre freigegeben sind. Wir finden also bei Cyrill eine Dreiteilung der Bücher, die man so benennen könnte: die kanonischen Bücher, die sekundären heiligen Bücher und die verbotenen Bücher.

Auf das Problem der “sekundären heiligen Bücher“ waren wir ja schon bei Josephus gestoßen. Die gleiche Erscheinung bzw. die gleiche Dreiteilung wie bei Cyrill findet sich aber auch bei Euseb und Athanasius. Aus der unterschiedlichen Bewertung der “sekundären heiligen Bücher“ ist dann offenbar der vom Osten abweichende westliche Kanon entstanden. Zu diesem Problem werde ich unten noch etwas sagen; hier bleiben wir zunächst noch beim jüdisch-altkirchlichen 22-Bücher-Kanon.

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Nach allem, was wir bisher gesehen haben, muß es also einen festumrissenen alttestamentlichen Kanon schon vor Josephus bzw. schon zu neutestamentlichen Zeiten gegeben haben. Gegen diese Feststellung werden allerdings von der liberalen Theologie verschiedene Einwände erhoben. Über die Streitigkeiten in Jamnia habe ich mich ja schon geäußert. Es gibt aber noch ganz andere Einwände.

So wird gesagt, Jesus zitiere in Lk 11,49 ein unbekanntes Weisheitsbuch als kanonische Schrift. Wenn das der Fall wäre, hätte es zu Jesu Zeiten ja tatsächlich noch nicht den Kanon gegeben, der dann später als allgemeingültig angesehen wurde. Das Argument, Jesus zitiere ein unbekanntes Weisheitsbuch als kanonische Schrift, ist aber aus doppeltem Grund zurückzuweisen. Erstens: Das einfache Zitieren eines Buches bedeutet niemals eine Anerkennung als kanonische Schrift. Zweitens: Wenn man die Stelle richtig versteht, erkennt man, daß Jesus hier in der dritten Person von sich selber redet. Im Zusammenhang mit seinen Weherufen über die Pharisäer sagt Jesus:

Darum spricht die Weisheit Gottes: Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden, und deren etliche werden sie töten und verfolgen, auf daß gefordert werde von diesem Geschlecht aller Propheten Blut, das vergossen ist, seit der Welt Grund gelegt ist, von Abels Blut an bis auf das Blut des Zacharias, der umkam zwischen dem Altar und Tempel. Ja, ich sage euch: Es wird gefordert werden von diesem Geschlecht.
(Lk 11,49-51)

Aus der Matthäusparallele ergibt sich eindeutig, daß es Jesus selber ist, der zu den Juden Apostel und Propheten schickt:

Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und deren werdet ihr etliche töten und kreuzigen, und etliche werdet ihr geißeln in euren Synagogen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zu der andern, auf daß über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden von dem Blut des gerechten Abel an bis auf das Blut des Zacharias, des Sohnes Barachjas, welchen ihr getötet habt zwischen Tempel und Altar.
(Mt 23,34+35)

In Lk 11,49 redet Jesus offenbar von sich in der dritten Person, wie er das ja auch sonst tut, wenn er von sich selbst als dem Menschensohn redet. Hier bezeichnet er sich selbst als die “Weisheit Gottes“. In ähnlicher Weise wird er ja auch im Johannesevangelium und in der Offenbarung als der “Logos“ bezeichnet. Man muß sich fragen, ob die liberale Theologie dumm ist oder hinterhältig, wenn sie behauptet, in Lk 11,49 zitiere Jesus eine außerkanonische heilige Schrift.

Etwas gravierender ist allerdings der Hinweis auf eine schwierige Stelle im Judasbrief, wo es im Zusammenhang mit den gnostischen Irrlehrern heißt:

Es hat aber auch von ihnen geweissagt Henoch, der siebente von Adam an, und gesprochen: Siehe, der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle Gottlosen für alle Werke ihres gottlosen Wandels, womit sie gottlos gewesen sind, und für all das Freche, das die gottlosen Sünder wider ihn geredet haben.
(Jud 14+15)

Hier zitiert Judas ganz unbezweifelbar das apokryphe Henochbuch (Hen 1,9). Erkennt er damit das apokryphe Henochbuch als kanonisch an? Tritt uns hier also ein anderer Kanon entgegen als der, den wir aus späteren Zeiten kennen? Oder ist der Kanon damals noch im Fluß? Das muß keineswegs der Fall sein.

Zunächst muß noch einmal mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß das Zitieren von Autoritäten nicht das Gleiche ist wie die Anerkennung als kanonische Schrift. Auch das moderne Christentum kennt Schriften von höchster Autorität, die aber trotzdem nicht für kanonisch angesehen werden. Da sind beispielsweise Luthers Katechismen, auf deren hohe Autorität man sich als evangelischer Theologe immer gut berufen kann, ohne daß man sie dadurch für kanonisch anzusehen braucht. Unter Lutheranern kann man sich ja eigentlich auf alle lutherischen Bekenntnisschriften berufen, ohne sie deshalb als biblische Autorität akzeptieren zu müssen. Für manche evangelischen Christen hat sogar jeder Ausspruch von Luther eine fast unfehlbare Autorität - und doch weiß jeder evangelische Christ, daß Luthers Werke keineswegs kanonisch sind.

In gleicher Weise berufen sich die Katholiken auf die von ihnen als unfehlbar geglaubten Lehrentscheidungen ihrer Kirche, die sie trotzdem nicht als kanonisch bezeichnen würden. Viele Katholiken glauben auch an die Aussprüche dieser oder jener Marienerscheinung. Sie wissen aber genau, daß diese keineswegs kanonischen Rang haben.

Genau das gleiche wird man u. U. auch beim Judasbrief annehmen dürfen. Judas hat offenbar an der Stelle, die er aus dem apokryphen Henochbuch zitiert, Gefallen gefunden. Das heißt aber nicht, daß er sie als kanonische Schrift anerkennt.

Nun kann man allerdings darauf hinweisen, daß Judas das apokryphe Henochbuch allem Anschein nach als ein prophetisches Buch ansieht. Liegt hier nicht zumindest ein Fehlurteil bzw. ein Irrtum vor - immerhin der Irrtum eines biblischen Schriftstellers, womit zumindest die Lehre von der Verbalinspiration der Heiligen Schrift tangiert wäre?

Darauf ist zu antworten: Wir wissen viel zu wenig über den literarischen Hintergrund der Angelegenheit. Das heute bekannte Henochbuch liegt nicht in seiner hebräischen Urform vor, sondern in einer äthiopischen Übersetzung. Es scheint aus mehreren verschiedenen Stücken zusammengesetzt zu sein. Wir wissen aber nicht, ob Judas das ganze Buch kannte, oder nur einen Teil. Wir wissen auch nicht, wie das Buch oder seine Teile entstanden sind. War hier ein theologischer Fälscher am Werk?

Viel wahrscheinlicher ist, daß es sich um subjektiv glaubwürdige Privatoffenbarungen handelte, wie wir sie ja aus der jüngeren Religionsgeschichte zu Hauf kennen. Ich verweise auf die Offenbarungen von Katharina von Emmerich oder auf die der heiligen Birgitta von Schweden oder auf die vielfachen Marienoffenbarungen unserer Zeit, die ja zum allergrößten Teil von der katholischen Kirche gar nicht anerkannt werden.

Wenn eine solche Privatoffenbarung etwas enthält, was ganz für sich genommen und durch die Umstände der Zeit ein gewisses Gewicht bekommen hat - unabhängig von der Frage der Echtheit - so ist es möglich, daß ein solches Wort zitiert wird, ohne daß damit eine letzte Wahrheitsaussage verbunden sein soll. Wenn man beispielsweise den Zustand der heutigen katholischen Kirche mit den Augen eines katholischen Traditionalisten sieht, drängt sich förmlich der Ausspruch der Muttergotteserscheinung von La Salette auf: “Rom wird den Glauben verlieren.“ Es muß aber nicht jeder Traditionalist, der dieses Wort zitiert, absolut von der Echtheit der Marienerscheinung in La Salette überzeugt sein. Oder wer bei der nächsten Papstwahl auf die Weissagung des Malachias verweist - und das werden bis hin zu den weltlichen Zeitungen zweifellos viele tun - muß nicht mit letzter Sicherheit von der Echtheit dieser Prophezeiung überzeugt sein.

Genauso kann man auch das Henochzitat aus dem Judasbrief verstehen - in dem folgenden Sinn: Man kann ja über das Henochbuch denken, was man will, in einem hat es recht:

Siehe, der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle Gottlosen für alle Werke ihres gottlosen Wandels, womit sie gottlos gewesen sind, und für all das Freche, das die gottlosen Sünder wider ihn geredet haben.

Vielleicht gab es aber für Judas sogar einen besonderen Grund, gerade diese Stelle zu zitieren. Es ist nämlich denkbar, daß das damalige Henochbuch bei den von Judas bekämpften Irrlehrern in hohem Ansehen stand und Judas ihnen mit diesem Zitat besonders weh tun wollte. Vielleicht haben wir es sogar mit einer ironischen Bemerkung zu tun: In dem von den Irrlehrern so hochgepriesenen Buch des Henoch, von dem sie in ihrer gnostischen Zahlenverliebtheit unermüdlich betonen, daß er der siebte von Adam an gewesen sei, steht auch die richtige “Weissagung“ über sie: “Siehe, der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über ... all das Freche, das die gottlosen Sünder wider ihn geredet haben.“ In ähnlicher Weise hat ja auch Paulus im Titusbrief den griechischen Dichter Epimenides als “Prophet“ bezeichnet (Ti 1,12).

Ob nun ein solches ironisches Verständnis von Jud 14+15 richtig ist oder nicht - wir wissen viel zu wenig über die genauen Absichten und Hintergründe dieses Zitates, als daß man daraus ein klares und durchschlagendes Argument gewinnen könnte, daß es nämlich zur Zeit des Josephus und des 2. Timotheusbriefes noch keinen eindeutig und festumrissenen Kanon gegeben hätte. Wir haben es also auch hier mit einer unklaren Aussage zu tun, die man nicht ins Feld führen kann, um die klaren Aussagen des Josephus und ihre Bestätigung durch den 2. Timotheusbrief zu widerlegen.

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Wir kommen jetzt zu der schwierigen Frage, welche jüdische Autorität denn überhaupt in der Lage gewesen sein könnte, eine allgemein verbindliche Kanonliste aufzustellen. Wenn man diese Frage an die heute tonangebende Theologie stellt, bekommt man keine befriedigende Antwort. Die moderne Theologie tut so, als ob sich der allgemein-jüdische Konsens, welches genau die heiligen Schriften seien, nach Art eines Volksliedes von allein entwickelt hätte. Das aber kann nicht sein. Einheitliche Entscheidungen ergeben sich nur durch eine starke Autorität. Fehlt diese Autorität, gibt es keine einmütige Entscheidung sondern Pluralismus.

Welche Autorität käme dann aber für die Feststellung des alttestamentlichen Kanons überhaupt in Frage? Das kann doch wohl nur eine Ratsversammlung, ein wirkliches Konzil - vielleicht unter der Leitung eines jüdischen Hohenpriesters - gewesen sein. Hat es so etwas gegeben? Ja!

Im Buch Nehemia wird von einer großen Volksversammlung in Jerusalem berichtet, die im Jahr 444 stattgefunden haben muß:

Als nun der siebente Monat herangekommen war und die Israeliten in ihren Städten waren, versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz vor dem Wassertor, und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, er solle das Buch des Gesetzes des Mose holen, das der HERR Israel geboten hat.
(Neh 7,72+8,1)

Handelte es sich bei dem Gesetz des Mose, das hier und an anderen Stellen bei Esra und Nehemia erwähnt wird, um die fünf Bücher Mose in der heute vorliegenden Gestalt oder erst um eine Vorform? Wir wollen die Frage an dieser Stelle offenlassen. Hier geht es zunächst um die Volksversammlung, und was sich später daraus ergeben hat. Wir lesen weiter:

Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und allen, die es verstehen konnten. Und die Ohren des ganzen Volks waren dem Gesetzbuch zugekehrt. Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einer hölzernen Kanzel, die sie dafür gemacht hatten...
(Neh 8,2-4)

Am nächsten Tag geht die Verlesung des Gesetzes weiter, aber diesmal im kleineren Kreis der Sippenoberhäupter, der Priester und der Leviten. Man stößt auf die Gesetzesvorschrift, daß es jedes Jahr ein Laubhüttenfest geben soll, und beschließt sofort, daß nun das Laubhüttenfest gefeiert werden soll, sieben Tage lang. An jedem dieser Tage wird wieder aus dem Gesetz vorgelesen.

Am 24. Tag dieses Monats gab es eine große Bußversammlung, die - wie es heißt - in eine “feste Abmachung“ einmündete (Neh 10,1). Es geht in dieser Abmachung um die Beachtung einer Reihe kultischer Vorschriften, angefangen bei dem Verbot von Mischehen bis zu der Frage, wer das Brennholz für den Opferkult zu besorgen hätte. Unterschrieben wird diese Abmachung nach dem Nehemiabuch von 23 Priestern (mit Nehemia an der Spitze), von 18 Leviten und 44 Ältesten.

Und nun wird es interessant: Die jüdische Überlieferung behauptet, es hätten auch noch 35 “Nebeim“ dazugehört, also 35 Propheten oder, wie man das Wort in späteren Zeiten auch übersetzen kann: 35 “Schriftgelehrte“, so daß alle Unterschriftspersonen insgesamt 120 Personen gewesen seien - und das sei der Beginn des “Großen Staatsrates“ gewesen, des “Ansche Keneset ha-Gedola“ (Megilla 17b; j.Meg.c.1). Dieser “Große Staatsrat“ habe das Volk Israel unter der persischen Oberherrschaft regiert vom Jahr 444 bis 196. Dieser Staatsrat habe auch im Laufe der Zeit den alttestamentlichen Kanon zusammengestellt, wobei der erste große Anfang unter Nehemia gemacht worden sei.

Wenn man diese Tradition kennt, liest man die entsprechenden Stellen im Nehemiabuch mit anderen Augen. Die im Nehemiabuch überlieferten 85 Unterschriften der Priester, Leviten und Ältesten unter die “feste Abmachung“ liest sich dann wie eine Liste von Konzilsteilnehmern. Die “feste Abmachung“ sind dann die Konzilsbeschlüsse; und die im Nehemiabuch übergangenen “Nebeim“ sind dann die theologischen Konzilsberater gewesen, deren Mitwirkung vor allem dann wichtig war, wenn es schon gleich bei dieser ersten Ratsversammlung auch um die heiligen Schriften ging. Zwar wird im Nehemiabuch von heiligen Schriften nichts erwähnt, es geht vielmehr um Brennholz und andere, uns weniger wichtig erscheinende Dinge, aber es liegt ja nahe, daß wir hier wieder einmal einen der so typisch unvollständigen Berichte der Bibel haben. Was sollte sonst eine so gewaltige Unterschriftenliste, wenn es nicht letztlich um wichtige Dinge gegangen wäre?

Vielleicht war sich Nehemia aber auch nicht im klaren, welch einen bedeutsamen Beschluß man über die heiligen Schriften gefaßt hatte. Die betreffenden Schriften waren ja offenbar schon vorhanden, Esra hatte daraus vorgelesen, der ständige Brennholzmangel dagegen war offenbar sehr ärgerlich. Es kann natürlich auch sein, daß der große Staatsrat erst Jahre später einen Beschluß über die heiligen Schriften gefaßt hat. Jedenfalls scheint in jener Zeit die höchste jüdische Autorität unter Anleitung von Priestern und “Propheten“ irgendwann den Anfang gemacht und eine ganze Reihe von biblischen Büchern kanonisiert zu haben.

In diesem Zusammenhang ist nun auch ein Vers aus dem 2. Makkabäerbuch interessant. Es geht dort um die Reinigung des damals entweihten Jerusalemer Tempels. Unter Hinweis auf allerlei legendäre Überlieferungen aus der Zeit des Jeremia und des Nehemia, aber auch in Hinblick auf den Beginn des Opferkultes unter Mose und die Tempelweihe durch Salomo heißt es:

Das alles findet man auch in den Schriften und den Denkwürdigkeiten, die zu Nehemias Zeiten geschrieben worden sind; ferner, wieNehemia die Bücher über die Könige und Propheten, auch die von David und die Briefe der Könige über Weihegeschenke zusammengebracht und eine Bibliothek eingerichtet hat.
(2. Makk 2,13)

Nach dem genauen Wortlauf dieses Verses ist zu unterscheiden zwischen den “Schriften und den Denkwürdigkeiten, die zu Nehemias Zeitengeschrieben worden sind“, die also nicht von Nehemia selber geschrieben sind - hierbei dürfte es sich um das ganze legendäre Material handeln - und um das, was Nehemia selber getan hat, nämlich daß “Nehemia die Bücher über die Könige und Propheten, auch die von David und die Briefe der Könige über Weihegeschenke zusammengebracht und eine Bibliothek eingerichtet hat.“

Die wichtigen Mosebücher werden hier nicht erwähnt. Sie werden offenbar als damals schon vorhanden vorausgesetzt. Vermutlich war also das Gesetz des Mose, das Esra aus Babel nach Jerusalem mitgebracht hatte, schon identisch mit den fünf Büchern Mose. Dagegen war es das Werk des Nehemia, “die Bücher über die Könige und Propheten, auch die von David“ zusammenzubringen und in einer Bibliothek zusammenzufassen. Das hört sich doch sehr danach an, daß Nehemia die sogenannten “prophetischen“ Bücher von Josua bis zum 2. Chronikbuch wie auch das Psalmbuch redigiert und mit Hilfe des Großen Staatsrates kanonisiert hat, und daß er eine Zentralbibliothek eingerichtet hat, wo die verbindliche Textversion dieser Bücher zu finden war. Daß hier auch noch von Briefen und Weihegeschenken die Rede ist, braucht niemand zu irritieren, es geht an dieser Stelle nicht in erster Linie um die Kanonfrage, sondern um ein allgemeines Bewahren der Tradition, zu der allerdings auch eine Sammlung und Kanonisierung von heiligen Büchern gehört haben dürfte.

Die restlichen Bücher des Alten Testaments sind offenbar in späteren Zeiten vom großen Staatsrat und vermutlich ebenfalls unter prophetischer Mitwirkung kanonisiert worden, denn die Bemerkung des Josephus, die noch späteren Schriften - gemeint sind offenbar die Apokryphen des Alten Testaments - stünden “nicht im gleichen Ansehen wie die früheren, weil es an der genauen Aufeinanderfolge der Propheten mangelte“, ist doch wohl so zu verstehen, daß es später irgendwelche Probleme bei der Mitwirkung der Propheten gegeben haben muß. Bis dahin allerdings scheinen die Propheten eine wichtige Rolle gespielt zu haben.

Wenn man nun davon ausgeht, daß das um 180 verfaßte Sirachbuch nicht mehr kanonisiert worden ist, obwohl es doch in allgemein hohem Ansehen stand, dann kann man daraus den vorsichtigen Schluß ziehen, daß die alttestamentliche Kanonbildung spätestens um 200 vor Christus abgeschlossen worden sein muß.

Zugegeben: Hier ist vieles hypothetisch. Aber die hier vorgelegten Überlegungen und Vermutungen haben den Vorteil, daß sie zu den klaren Aussagen des Josephus wie auch des 2. Timotheusbriefes passen. Sie passen übrigens auch dazu, daß Jesus in seiner Auseinandersetzung mit den Juden auch auf die alttestamentlichen Schriften verweist, die von seiner Person zeugen (Joh 5,39). Ein solcher Hinweis ist eigentlich erst dann durchschlagend, wenn beide Seiten genau wissen, welche Schriften gemeint sind.

Offenbar hat Jesus die Kanonentscheidungen des nachexilischen Judentums akzeptiert und damit legitimiert. Und von ihm haben offenbar die Apostel und die frühe Kirche ihre Anschauung über die alttestamentlichen heiligen Schriften. Wir bekennen ja mit dem nizänischen Glaubensbekenntnis, daß wir an eine “apostolische“ Kirche glauben. Das heißt: Wir glauben, daß die Apostel der Kirche treu und wahrheitsgemäß überliefert haben, was die unfehlbare Lehre Jesu war. Zu dieser “apostolischen“ Kirche gehört auch ganz eindeutig der alte 22-Bücher-Kanon, von dem auch Josephus berichtet. Wie es dann im Westen später zu einem erweiterten Kanon des Alten Testaments kam, werde ich im 2. Teil kurz behandeln.

Ich komme zum Ende des 1. Teiles: Es hat Gott gefallen, uns die genauen und zuverlässigen Nachrichten vorzuenthalten, wann und wer den alttestamentlichen Kanon festgesetzt hat und in welcher Vollmacht das geschehen ist. Er hat damit einen Spielraum gelassen für den vorhergesagten endzeitlichen Glaubensabfall, denn hier gibt es ja einen weiten Raum für die vielen glaubenzerstörenden Hypothesen der liberalen Theologie. Wer aber ein hochkirchliches Glaubensverständnis hat, steht auf sicherem Boden. Er weiß, daß es viele Dinge gibt, über die uns mit ausreichender Sicherheit nur die alte, bischöflich verfaßte Märtyrerkirche unterrichtet. Das betrifft insbesondere alle Fragen, die mit den Sakramenten zusammenhängen, das betrifft aber nicht zuletzt auch die Frage des Kanons und der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift. Gott sei Dank!

 

II. Von den Worten und Taten Jesu bis zum evangelischen Kanon 
- eine kurzgefaßte Übersicht -

 

Was Jesus gesagt und getan hat, ist zuerst ohne schriftliche Unterlagen von den Aposteln gepredigt worden. Durch diese Predigten haben sie die Menschen bekehrt und den christlichen Glauben weiterverbreitet. War schon die Predigt der Apostel in allen ihren Einzelheiten und bis in den letzten Nebensatz unfehlbar? Ich wage das zu bezweifeln. Ganz gewiß entsprach die apostolische Predigt weitestgehend der Wahrheit, aber kleine Randunschärfen kann es vielleicht doch gegeben haben. Wenn das stimmt, dann ist es nicht notwendig, daß die Glaubensverkündigung bis ins allerletzte unfehlbar ist, es könnte also auch eine in Randfragen fehlerhafte Bibel einen im Wesentlichen sicheren und festen Glauben bewirken. Ich selber halte zwar auf Grund der altkirchlichen Überlieferung die Bibel für absolut wahr, richtig und unfehlbar, halte das aber nicht für eine notwendige Voraussetzung für einen sicheren Glauben. Man sollte die Dinge realistisch sehen und nicht einen Alles-oder-nichts-Standpunkt einnehmen.

Die Predigten der Apostel wie auch ihre späteren Evangelien und Briefe wurden beglaubigt durch die Wunder, die sie getan haben, und durch die inhaltliche gegenseitige Übereinstimmung. Man hat sich damals offenbar auch gegenseitig legitimiert. Hierzu gibt es ja die interessante Überlieferung, daß man dem alten Apostel Johannes die drei synoptischen Evangelien gebracht habe mit der Bitte, zu bestätigen, ob deren Inhalt der Wahrheit entspreche. Johannes habe dies bejaht, sich aber entschlossen, ein viertes Evangelium zu schreiben, das einige Dinge enthalten sollte, die in den bisherigen drei noch fehlten. Das ist ein durchaus glaubwürdiger Bericht, der illustriert, wie die apostolischen Uraugenzeugen sich gegenseitig bestätigt haben. In gleicher Weise hatte ja schon zuvor Petrus die Briefe des Apostels Paulus bestätigt (2.Pt 3, 15+16). Auch das ist ein durchaus glaubwürdiger Vorgang!

Wir finden dann in der alten Kirche einen weit verbreiteten Konsens, welches die apostolischen Schriften sind. Mag es dabei auch gewisse Unsicherheiten am Rand gegeben haben, so sollte man doch den überwältigenden Hauptkonsens nicht übersehen oder kleinreden oder mit Grundsatzüberlegungen in Frage stellen.

Zu dem altkirchlichen Grundkonsens gehört auch der jüdische Kanon des alten Testaments - wiederum mit einigen unbedeutenden Randunschärfen, und es gehört auch dazu die Hochachtung einer ganzen Reihe von “sekundär-heiligen Schriften“, wie ich sie nennen möchte.

Das Phänomen der “sekundär-heiligen Schriften“ findet man nicht nur in der christlichen Religion. Bei den Juden gibt es den mehr oder weniger als heilig angesehenen Talmud, im Islam die Sunna und das Hadith. Sind nicht auch Luthers Katechismen für einen überzeugten Lutheraner fast so etwas wie unfehlbare, heilige Schriften? Hat nicht für jeden gläubigen Theologen zumindest das Nizänum den Rang eines unfehlbaren und heiligen Glaubenszeugnisses? Es sollte uns doch eigentlich nicht schwer fallen, zu verstehen, warum die sogenannten Apokryphen des Alten Testaments von der alten Kirche mit ganz besonderer Hochachtung angesehen und als quasi heilige Schriften behandelt worden sind.

Diese Hochachtung findet sich schon bei Josephus, später ist sie feststellbar bei Cyrill von Jerusalem und Athanasius - aber auch, wie mir scheint, wenn auch etwas zurückhaltender bei Euseb. Die entsprechende Stelle im 39. Osterfestbrief des Athanasius lautet folgendermaßen:

(Dies sind die Schriften) des Neuen Testaments: es ziemt sich nicht, daß wir sie auslassen. Diese sind: die vier Evangelien - das nachMatthäus, das nach Markus, das nach Lukas, das nach Johannes - dann die Apostelgeschichte und die sieben katholischen Briefe - einer von Jakobus, zwei von Petrus, drei von Johannes und einer von Judas -, dazu die vierzehn Briefe des Apostels Paulus. Sie wurden in dieser Reihenfolge geschrieben: der erste ist der an die Römer, danach zwei an die Korinther, dann der an die Hebräer, dann der an dieGalater und der an die Epheser, dann der an die Philipper und der an die Kolosser, danach die zwei an die Thessalonicher, dann die zwei an Timotheus und der an Titus, schließlich der an Philemon. Danach die Apokalypse von Johannes.

Das sind die Quellen des Heils; so kann der, der dürstet, von den Worten genießen, die darin sind; sie verkünden die Lehre des Glaubens, der in ihnen ist: kein Mensch füge zu ihnen (etwas) hinzu, noch nehme er (etwas) davon weg...

... Außer diesen gibt es (noch) andere Bücher, die nicht als kanonisch anerkannt, doch von unseren Vätern zum Lesen empfohlen wurden für die, die neu eintreten werden und lernen wollen das Wort des Glaubens: die Weisheit Salomos, die Weisheit des Sohnes SirachEsther,JudithTobias und die Lehre der Apostel - ich spreche nicht von der, zu der man sagt, sie setze das Deuteronomium herab - und auch derHirte.

So weit Athanasius. Ich vermute, daß es hier wieder einmal um ein Problem der Arkandisziplin geht: Die eigentlichen Schriften des Neuen Testaments gab man den noch nicht Getauften nicht in die Hand, sie mußten sich mit sekundär-heiligen Schriften begnügen. Jedenfalls werden hier sechs Bücher zur privaten Lektüre empfohlen, von denen vier dann später zu den sogenannten Apokryphen des Alten Testamentes zählen.

Bei Cyrill von Jerusalem werden die zweitrangigen Schriften nur allgemein erwähnt und nicht einzeln namentlich aufgeführt. Dafür gibt Cyrill zu erkennen, daß diese Schriften auch im Gottesdienst verlesen wurden. Er schreibt nämlich nach der Aufzählung der kanonischen Schriften:

Alle übrigen Schriften sollen in zweiter Linie kommen. Alle jene Schriften aber, welche in der Kirche überhaupt nicht gelesen werden, darfst du, wie du gehört hast, auch für dich nicht lesen. Soviel über die Schrift.
(Kat IV,35)

Man sollte versuchen, das Problem zu verstehen, um das es bei der Verlesung der “sekundär-heiligen Schriften“ im Gottesdienst ging. Welchen Bibeltext konnte man auswählen, wenn man damals über die Abtreibung predigen wollte? Es gibt keinen Text in den kanonischen Schriften, der die Abtreibung direkt verbietet. Es lag also nahe, ein Stück aus der Didache vorzutragen, in der es schön deutlich und ohne Umschweife heißt:

Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht Knaben schänden, nicht huren, nicht stehlen, nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen, nicht abtreiben noch ein Neugeborenes töten ...
(Did 2,2)

Oder welch ein Stück aus der Bibel sollte ein Prediger wählen, um seiner Gemeinde die eigene Verantwortung für sein ewiges Schicksal vor Augen zu stellen. Gibt es nicht in den kanonischen Texten viele Stücke, die die Willensfreiheit des Menschen in Frage zu stellen scheinen, und wo gibt es demgegenüber einen biblischen Text, der die Eigenverantwortung ganz klar und unmißverständlich zum Ausdruck bringt? Da liegt es doch nahe das folgende Stück aus Jesus Sirach vorzulesen und darüber zu predigen:

Du darfst nicht sagen: Bin ich abtrünnig geworden, so hat´s Gott getan -; denn was er haßt, das solltest du nicht tun. Du darfst nicht sagen: Er selbst hat mich verführt -; denn er braucht keinen Gottlosen. Der Herr haßt alles, was ein Greuel ist; und wer ihn fürchtet, der scheut sich davor. - Er hat im Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Entscheidung überlassen. Wenn du willst, so kannst du die Gebote halten und in rechter Treue tun, was ihm gefällt. Er hat dich vor Feuer und Wasser gestellt; ergreife das, was du willst! Der Mensch hat vor sich Leben und Tod; was er davon will, das wird ihm gegeben werden.
(Sir 15,11-17)

Es sollte sich niemand daran stoßen, daß hier die Gebote als erfüllbar hingestellt werden, das ist im Gesetz des Mose genauso der Fall (5.Mose 30,11-14). Das muß man richtig verstehen, denn es geht dabei um die groben Sünden - und das müßte auch heute wieder mit Nachdruck gepredigt werden: Die groben Sünden kann und muß ein gutwilliger Christ vermeiden.

Wenn nun also das Weisheitsbuch des Jesus Sirach - um bei diesem Beispiel zu bleiben - in Jerusalem im Gottesdienst verlesen werden durfte und wenn vermutlich auch darüber gepredigt wurde, dann wurde das unkanonische Buch praktisch doch mehr oder weniger als kanonisch behandelt.

Genau dies ist nun offenbar im Westen mit den Apokryphen geschehen. Durch ihre gottesdienstliche Verwendung erhielten die zunächst unkanonischen Bücher offenbar mit der Zeit eine kanonische Würde.

Das wird zunächst in den nordafrikanischen Lokalsynoden von Hippo Regius (393), Karthago (397) und noch einmal Karthago (419) sichtbar, wo wir erstmals etwas über den erweiterten katholischen Kanon hören. Ob auch die römische Synode von 382 den erweiterten katholischen Kanon beschlossen hat, ist ungewiß.

Richtig, endgültig, gesamtkirchlich festgelegt wurde der erweiterte katholische Kanon erst auf dem Konzil zu Trient.

Inzwischen hatte Luther sich für den östlichen, altkirchlichen Kanon entschieden. Welche Überlegungen er dabei genau angestellt hat, ist mir nicht bekannt. Es ist aber zu vermuten, daß er getreu dem Renaissance-Schlagwort “zurück zu den Quellen“ nach den ältesten Aussagen über den Kanon geforscht hat und sich so der älteren ostkirchlichen Überlieferung angeschlossen hat.

Ich jedenfalls schließe mich dem alten ostkirchlichen Konsens an, möchte aber an dieser Stelle noch einmal betonen: Ein großes Problem kann ich bei den unterschiedlichen Kanonentscheidungen nicht sehen. Theologisch ändert sich so gut wie nichts, wenn man den erweiterten katholischen Kanon nimmt. Es gibt sogar einige besonders schöne Stücke, die wir - ob kanonisch oder nicht - aus den alttestamentlichen Apokryphen in unser Brevier übernommen haben. Ich persönlich halte übrigens auch viele Paul-Gerhard-Lieder für inspiriert, wenn ich auch weiß, daß sie nicht kanonisch sind.

- - -

Ich möchte jetzt noch auf einige kleinere Fragen eingehen:

1. Der Kanon und die Mitte der Schrift

Es ist ganz unbezweifelbar, daß es besonders wichtige und zentrale Stellen in der Bibel gibt und daneben auch weniger wichtige. Wichtig und zentral sind beispielsweise die Berichte von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi. Wichtig und zentral sind ganz gewiß auch alle jene Stellen, die die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben bezeugen. Es ist durchaus sinnvoll, diese Zentralstellen als die “Mitte der Heiligen Schrift“ zu bezeichnen. Weniger wichtig sind dagegen - um auch hier konkrete Beispiele zu nennen - die langen Namenslisten im 1. Chronikbuch oder im Nehemiabuch.

Es ist aber falsch von einem “Kanon im Kanon“ zu sprechen, so als ob die weniger zentralen Stücke der Bibel nicht wirklich zum Kanon gehörten. Es gehört vielmehr zum Reichtum der Bibel, daß sie auch einen reichen Schatz an weniger wichtigen Texten anbietet, von denen jeder auf seine Weise auch eine biblische Botschaft enthält. Die langen Namenslisten beispielsweise bezeugen uns, daß kein Mensch vor Gott vergessen ist, auch wenn er schon vor Jahrhunderten verstorben ist.

Um es durch einen Vergleich zu sagen: Die Mitte von Deutschland liegt heute ungefähr bei Kassel. Nun würde es jeden von uns empören, wenn unsere europäischen Nachbarn im Osten und Westen wie auch im Norden und Süden kämen und Landstreifen besetzten und von Deutschland abtrennen würden, mit der Begründung, man ließe ja die Mitte unangetastet. Es ist eben nicht dasselbe, ob Kassel in der Mitte eines kleinen oder eines großen Landes liegt. Genauso ist es mit der sogenannten “Mitte der Schrift“. Dieses an sich richtige Schlagwort sollte nicht dazu mißbraucht werden, andere Bibelteile als gänzlich unwichtig oder sogar unkanonisch zu bewerten und sie - zumindest mental - von der Bibel abzutrennen.

Hier - das ist jedenfalls meine Meinung - hat Luther höchst mißverständlich gehandelt, als er den Jakobusbrief eine “ströherne Epistel“ genannt und dieses Buch vom angestammten Platz nach hinten geschoben hat. Ich meine, die lutherische Kirche sollte diesen Eingriff wieder rückgängig machen.

 

2. Hat sich die Kirche mit der Feststellung des Kanons über die Schrift erhoben?

Wer will, kann das so sehen. So neigt ja beispielsweise die katholische Theologie dazu, die Kirche über die Bibel zu stellen mit der Begründung, die Kirche habe ja doch die Bibel erst durch die Feststellung des Kanons geschaffen. Ich sehe das nicht so, und dies ist der entscheidende Punkt, an dem ich sage, wir sind hochkirchlich und nicht katholisch, jedenfalls nicht römisch-katholisch. An diesem Punkt möchte ich evangelisch bleiben. Das heißt: Die Bibel steht in jedem Fall über der Kirche. Und die Feststellung des Kanons ist kein souveräner Akt der Kirche, sondern ein sich Beugen unter die von Gott geschaffenen Tatsachen.

Auch hier möchte ich wieder mit einem Vergleich argumentieren. Hat Maria, indem sie dem Jesuskind die Windeln gewechselt und ihm die ersten hebräischen Worte vorgesprochen und ihm die ersten Gebete beigebracht hat, über ihren Sohn geherrscht oder hat sie ihm gedient? Ich sage, sie hat ihm gedient, auch wenn es vielleicht nach mütterlicher Herrschaft ausgesehen haben mag. Selbst wenn sie ihm verboten haben sollte, zu nahe an den Brunnen oder an einen Abgrund zu treten, hat sie nicht über ihn geherrscht, sondern ihm gedient.

Genauso hat die Kirche der Schrift gedient, indem sie überliefert und festgestellt hat, welche Schriften von einem Zwölferapostel oder von dem spätberufenen Paulus stammten und welche nicht, und wenn sie diesen noch die Schriften der Apostelschüler Markus und Lukas beigesellt hat. Der scheinbare Herrschaftsakt der Kanonisierung war in Wirklichkeit ein sich Beugen unter eine unbezweifelbare Tradition.

Es geht ja im Kern um die einfache Tatsachenfeststellung, welche Schriften von den Uraugenzeugen stammten, die alles selber gehört und mitangesehen haben, denen Jesus in Joh 14,26 versprochen hatte, der Heilige Geist werde sie an alles genau erinnern, was er, Jesus, gesagt hat, und die den Heiligen Geist dann auch tatsächlich in solcher Fülle besaßen, daß sie sogar Tote auferwecken konnten. Diese Tatsachenfeststellung ist kein Herrschaftsakt, sondern ein Zeugendienst. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für die Schriften des Markus, Lukas und Paulus.

 

3. Wer hat die Vollmacht, eine Lehrentscheidung über den Kanon zu treffen?

Nach den lutherischen Bekenntnisschriften ist es die Aufgabe der Bischöfe zu lehren. So heißt es in der Augsburgischen Konfession über die Bischöfe:

Derhalben ist das bischoflich Ambt nach gottlichen Rechten das Evangelium predigen, Sunde vergeben, Lehr urteilen und die Lehre, so dem Evangelium entgegen verwerfen ...
(CA XXVIII,20+21)

Es ist ja einleuchtend, daß man nicht einfache Gemeindeglieder mit schwierigen Lehrfragen belasten kann, sonst müßte man ja Abitur und Theologiestudium zur Voraussetzung der Taufe machen. Es können aber auch nicht die theologischen Lehrer, Theologieprofessoren usw entscheiden, denn sie sind bis zu einem gewissen Grad weltfremd, was man besonders erkennen kann, wenn sie sich über Amtsfragen äußern. Daß die Amtsfrage auch immer eine permanent angefochtene Machtfrage ist, können sie sich in ihrem sicheren Professorenleben kaum vorstellen. Sie kommen daher gerade in der Amtsfrage immer wieder zu weltfremden Aussagen, sei es zum heutigen Pastorenberuf oder zur Stellung des römischen Bischofs im kirchlichen Altertum. Sie mögen als theologische Berater willkommen sein, aber letztlich entscheiden sollten sie nichts. Das ist jedenfalls die Tradition der Kirche von den ökumenischen Konzilien der alten Kirche über CA XXVIII bis zum 2. Vatikanum; und das ist auch meine feste Überzeugung.

Wenn heute in der evangelischen Kirche die von Laien majorisierten Synoden entscheiden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn dort viele unbiblische Entscheidungen gefällt werden. In der Kanonfrage leben wir allerdings auch in der evangelischen Kirche immer noch - Gott sei Dank! - von den bischöflichen Entscheidungen der alten Kirche - wenn wir einmal absehen von dem leichten Eingriff in den Kanon durch den evangelischen Theologieprofessor Martin Luther.

Das heißt: Bei der Feststellung des Kanons halten wir uns an die alten bischöflichen Kanonlisten. Irgendwelche anonymen Buchaufstellungen wie der sogenannte “Kanon Muratori“ sind völlig irrelevant. Irrelevant sind auch alte Kodizes, in denen neben den kanonischen Schriften auch der 1. Klemensbrief, der “Hirte des Hermas“ oder sonst eine unkanonische Schrift zu finden ist. So ein alter Kodex mag für die Wissenschaft von unersetzlichem Wert sein, ein bischöfliches Dokument ist er nicht.

Zu den alten Kodizes noch eine besondere Anmerkung - ich hole etwas aus: Ich habe früher gerne meine Schallplatten auf Tonbänder überspielt, denn die Tonbänder hielten die Qualität besser, sie verstaubten und verkratzten nicht. Außerdem konnte ich dabei das eine oder andere Stück weglassen, das mir nicht ganz so gut gefiel. Dabei konnte es vorkommen, wenn ich etwa ein Band mit Spirituals von Mahalia Jackson bespielt hatte, daß am Schluß noch Platz für ein oder zwei weitere Stücke war, und daß ich das kostbare Bandende noch ausgenutzt und ein oder zwei Spirituals von Louis Armstrong angehängt habe. Dabei war ich mir wohl bewußt, daß es sich um zwei verschiedene Sänger handelte, die ich nur aus Kostengründen auf einem Band vereinigte.

So wird es wohl auch vielfach mit den alten Kodizes gegangen sein. Wenn eine Gemeinde vielleicht einen Kodex mit 300 Seiten gekauft und dahinein die kanonischen Schriften hat eintragen lassen, und wenn man dann schließlich festgestellt hat, es ist noch Platz für ein mittelgroßes Buch, hat man diesen Platz vielleicht ausgenutzt und vielleicht den Barnabasbrief angehängt, aus dem man beispielsweise gut vorlesen konnte, wenn man über die Abtreibung predigen wollte. Eine Kanonenentscheidung war damit aber keineswegs verbunden. Das behaupten erst die modernen Theologen, denen daran gelegen ist, Staub aufzuwirbeln, um ihre kritischen Behauptungen glaubwürdiger machen zu können.

Oder wenn in den Verfolgungszeiten einer Gemeinde alle kanonischen Schriften abhanden gekommen waren und man sich aus Geldgründen nur einen 200-Seiten-Kodex leisten konnte, hat man vielleicht in aller Eile in einer Nachbargemeinde die vier Evangelien und die ersten sieben Paulusbriefe abgeschrieben. Damit hatte man für den Gottesdienst erst einmal den notwendigsten Vorlesestoff. Wenn aber ein solcher Kodex in die Hand moderner Theologen fällt, kann daraus leicht die irrige Behauptung entstehen, da und da habe man einen stark verkürzten Kanon benutzt.

Darum sage ich noch einmal mit allem Nachdruck: Mich überzeugen in der Kanonfrage nur die alten bischöflichen Kanonlisten. Die alten Bischöfe haben in aller Regel mehrere Weihestufen durchlaufen und sind dabei jedesmal gesegnet worden. Jedesmal wurde um die Hilfe des Heiligen Geistes gebetet.

Die zentrale Weihebitte im Bischofsweihgebet des Hippolyt lautet:

Gieße auch jetzt die Kraft des leitenden Geistes aus. Er kommt von dir, und du hast ihn deinem vielgeliebten Sohn Jesus Christus gegeben; er hat deinen Geist den heiligen Aposteln geschenkt, die die Kirche an allen Orten gegründet haben ... 
(TA 3)

Die Bischofsweihe, bei der solchermaßen um den Heiligen Geist gebetet wurde, ist ja ein Sakrament, das heißt: Diese im Namen Jesu Christi vollzogenen Gebete gehören zu den amtlichen Kirchengebeten, denen in den Abschiedsreden die sichere Erhörung zugesagt worden ist. Daher kann man von diesen Bischöfen und von den von ihnen veranstalteten Konzilien am ehesten erwarten, daß sie - geistgeleitet - zu den rechten Entscheidungen befähigt waren. Nun sind die Kanonlisten dieser Bischöfe - soweit ich sie kenne - bis auf Randfragen - außerordentlich einheitlich. Daher ist für mich die Kanonfrage durch die Bischöfe der alten Kirche ohne Zweifel glaubhaft und endgültig entschieden.

In der vierten Auflage der RGG schreibt Udo Schnelle:

Der Prozeß der ntl. Kanonbildung wurde wesentlich von den Gemeinden getragen und bestimmt, in denen die einzelnen Schriften Autorität besaßen.
(RGG4 I,1423)

Ich halte eine solche Aussage für schlichtweg naiv. Nicht die Gemeinden entscheiden, was im Gottesdienst gelesen und worüber gepredigt wird, sondern die Kleriker. Und so haben auch nicht die Gemeinden entschieden, welches die kanonischen Schriften sind, sondern die Bischöfe. Und das war sicherlich auch in Gottes Sinn.

Karsten Bürgener

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